Geriatrische Onkologie: „Ältere Patienten sind unsere Hauptklientel“
Aufgrund der demografischen Entwicklung sei in der Zukunft mit einer deutlichen Zunahme der Krebsneuerkrankungen und krebsbedingten Todesfälle weltweit zu rechnen, erinnerte PD Dr. Ulrich Wedding, Jena. Ältere Patienten mit Krebserkrankungen sollten daher im Zentrum der onkologischen Versorgung stehen: „Ältere Patienten sind unsere Hauptklientel. Es ist nicht damit getan, dass sich nur ein paar Spezialisten auf diese konzentrieren“, mahnte er. Vielmehr sei die Versorgung Älterer eine Hauptaufgabe der Onkologie. Er nannte fünf Themenbereiche, in denen verstärkt geforscht werden sollte, um die Versorgung von älteren Patienten mit Krebs und Komorbiditäten zu verbessern: Wearables, Ernährung und Mikrobiom, Seneszenz und Senotherapie, Studienrekrutierung und klinisches Design sowie die Verträglichkeit onkologischer Behandlungen. Die im Jahr 2023 auf Basis neuer Studienergebnisse aktualisierten Leitlinien der American Society of Clinical Oncology (ASCO) zur Behandlung älterer Patienten (≥ 65 Jahre), die eine systemische Tumortherapie erhalten, empfehlen, dass ein geriatrisches Assessment (GA) erfolgen sollte und die Ergebnisse bei den Therapieentscheidungen berücksichtigt werden sollten [1]. „Wir sehen, dass die Tumorboard-Empfehlungen in bis zu einem Drittel der Fälle anders ausfallen, wenn bei Vorstellung des Patienten Informationen zum geriatrischen Assessment vorliegen“, erklärte Wedding. Ein detaillierter Blick auf die Studiendaten zeige, dass bei GA-basierten Inventionen häufiger geringere Toxizitäten auftreten würden, da die Therapieempfehlungen im Tumorboard entsprechend angepasst worden seien, konkretisierte er. Als Screening-Tool zur Detektion von Veränderungen eigneten sich Fragebögen, die vom Patienten selbst ausgefüllt und vom Behandler ergänzt werden können. Die beim GA evaluierten Aspekte umfassen unter anderem: körperliche Leistungsfähigkeit, funktioneller Status, Komorbiditäten und tägliche Medikamenteneinnahme, Kognition, psychologischer Zustand, Ernährungssituation sowie soziale Unterstützung.
Geriatrisches Assessment frühzeitig starten
Ähnliche Kriterien finden sich auch in den im Jahr 2024 aktualisierten Empfehlungen des Positionspapiers der European Society for Medical Oncology (ESMO)/International Society of Geriatric Oncology (SIOG) zum Geriatric Assessment and Management (GAM) [2]. Die Autoren betonen zudem, dass das GAM frühzeitig – also noch vor Festlegung des Behandlungsplans – erfolgen sollte. Für die Evaluierung des Toxizitätsrisikos der Therapie eigneten sich die Scores CRASH (Chemotherapy Risk Assessment Scale for High-Age Patients) oder CARG (Cancer and Aging Research Group). Hinweise zum onkologischen Basisscreening, das Empfehlungen aus den jeweiligen S3-Leitlinien beinhalte, finden sich unter www.onkozert.de.
Die AIO aktualisiere derzeit unter anderem die FORTA(Fit for the Aged)-Liste für Onkologika, eine Postitivliste von Medikamenten, die auch bei älteren und komorbiden Patienten sicher eingesetzt werden können. Bei den 15 häufigsten Krebserkrankungen sollen dazu bis zu 150 Therapieregime (inklusive Supportiva) bewertet werden. Zudem sei man dabei, Onkopedia-Empfehlungen zur geriatrischen Onkologie zu etablieren. Die Zukunft liege auch in digitalen Anwendungen, so Wedding: „Ich vermute, dass künftig die digitale Erfassung des Gesundheitszustands von Älteren zum Beispiel über Wearables eine wichtige Rolle spielen wird. Dies ist besser als eine Momentaufnahme durch das GA. Möglicherweise erhalten die Patienten dann eine App und nutzen diese über eine Woche. Anschließend fragen wir die Inhalte – zum Beispiel zu Mobilität, Schlafqualität etc. – ab.
Eine zunehmende und bald überwiegende Zahl der Patienten mit Krebserkrankung sei alt. Daher müsse die geriatrische Onkologie als Schwerpunkt innerhalb des Fachbereichs verstanden werden, unterstrich er. Man sollte vom bisher vorwiegenden diagnostischen Einsatz des GA zu Assessment-basierten Interventionen gelangen. Studien hätten gezeigt, dass GA-basierte Therapieentscheidungen und Interventionen das Outcome verbesserten.
Molekulare und translationale Onkologie
Die erweiterte molekulare Diagnostik ermöglicht immer häufiger personalisierte Therapieempfehlungen. So sei beispielsweise bei einer Krebserkrankung mit unbekanntem Primärtumor (CUP) oder bei der Drittlinientherapie des fortgeschrittenen Magenkarzinoms die personalisierte Therapieempfehlung aus einem molekularen Tumorboard bereits Leitlinienstandard, berichtete Dr. Damian Rieke, Berlin. Man müsse sich aber auch fragen, wie solch eine individualisierte Diagnostik und Therapie in der Praxis umgesetzt werden könne. Die 2024 erschienene neue Onkopedia-Leitlinie zur Präzisionsonkologie sieht dafür einen mehrstufigen Prozess vor [3]. Dieser umfasst: Patientenauswahl, molekulare Analyse, Befunderstellung, klinische Annotation, molekulare Tumorkonferenz/Therapieempfehlung sowie Behandlung und Follow-up und gegebenenfalls (Re-)Biopsie.
Gemäß Onkopedia-Leitlinie werde eine erweiterte molekulare Diagnostik bei Patienten als sinnvoll angesehen, die eine fortgeschrittene oder seltene Krebserkrankung aufweisen, eine leitliniengerechte Therapie absehbar durchlaufen und fit genug für diese Vorgehen seien, erklärte Rieke. Die ESMO-Empfehlungen aus 2024 [4] befürworten den Einsatz von Next Generation Sequencing (NGS) bei Patienten mit metastasierten Krebserkrankungen, falls ein Zugang zu zielgerichteten Therapien verfügbar ist – „dies ist in Deutschland der Fall“, erinnerte Rieke. „Personalisierte Onkologie ist mittlerweile Standard; das gilt für zahlreiche Tumorentitäten. Die Umsetzung ist ein mehrstufiger, multidisziplinärer Prozess.