Das Zusammenspiel von Zytomorphologie, Chromosomenanalyse, Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH), Molekulargenetik und Immunphänotypisierung stellt die Basis für eine umfassende Diagnostik von leukämischen Erkrankungen dar. Seit einiger Zeit erleben wir beim diagnostischen Algorithmus einen Paradigmenwechsel vom Phänotyp zum Genotyp. Der Stellenwert der Molekulargenetik wird immer wichtiger, was sich in aktuellen Richtlinien, Klassifikationen und Scores abbildet. So wird inzwischen innerhalb der neuen WHO-Klassifikation [1], die seit Kurzem verfügbar ist, immer mehr der Genotyp zur Klassifikation verschiedener Entitäten herangezogen [2, 3]. Auch für die Prognoseeinschätzung bei der akuten myleoischen Leukämie (AML) nach den aktuellsten Richtlinien des European LeukemiaNet (ELN) ist die Kenntnis der genetischen Befunde unumgänglich [4]. Diese Entwicklung zeigt sich ebenso bei myelodysplastischen Neoplasien (MDS), für die es einen neuen Risikoscore gibt, in dem zusätzlich zu klinischen und zytogenetischen neuerdings auch molekulargenetische Befunde berücksichtigt werden: International Prognostic Scoring System-Molecular (IPSS-M) [5]. Für myeloische Neoplasien und akute Leukämien wurde zudem in diesem Jahr parallel eine neue „International Consensus Classification (ICC)“ vorgeschlagen [6].
In diesem Artikel möchten wir Ihnen anhand der Beispiele akute lymphatische Leukämie (ALL), AML und MDS einen kurzen Überblick über die wichtigsten Neuerungen geben, die durch die WHO, das ELN, den IPSS-M und die ICC in diesem Jahr veröffentlicht wurden.
Bei der ALL-Diagnose geht es komplett nur noch mit der Ganz-Transkriptom-Analyse (WTS)
Aus der Diagnostik der ALL sind die klassischen Methoden Zytomorphologie und insbesondere Immunphänotypisierung heute nicht wegzudenken, und einige Entitäten können mithilfe traditioneller Karyotypisierung/Chromosomenanalyse und/oder FISH (Aneuploidie, rekurrente Rearrangements, iAMP21) diagnostiziert werden. Andere durch die WHO klassifizierte Subgruppen benötigen aufgrund ihrer definierenden oder kryptischen (nicht sichtbar in der klassischen Chromosomenanalyse) genetischen Aberrationen zur Diagnose allerdings zwingend molekulargenetische Methoden inklusive Next Generation Sequencing (NGS) und Gesamt-Transkriptom-Sequenzierung (WTS). Hierzu gehören die B-Zell-ALL (B-ALL) mit BCR::ABL1-ähnlichen Merkmalen und die B-ALL mit ETV6::RUNX1-ähnlichen Merkmalen, deren Transkriptom eine Phänokopie der Entitäten B-ALL mit BCR::ABL1- bzw. ETV6::RUNX1-Fusion darstellt. Bei der B-ALL mit BCR::ABL1-ähnlichem Genexpressionsprofil profitieren Betroffene besonders gut von zielgerichteten Therapien, was die Bedeutung der molekulargenetischen Diagnose betont [2].
Durch aktuelle Genexpressions- und Sequenzierstudien konnten neue genetische Treiber identifiziert werden, die in der Subgruppe der B-ALL mit anderen definierten genetischen Aberrationen zusammengefasst werden. Nach intensiver Forschung können sie die Grundlage für potentielle neue Subgruppen bilden. Zu diesen Aberrationen gehören DUX4-, MEF2D-, ZNF384- und NUTM1-Rearrangements, IG::MYC-Fusionen sowie Aberrationen von PAX5alt und PAX5p.P80R [2]. In der neuen ICC werden diese genetischen Treiber bereits als eigene B-ALL-Subgruppen verwendet, und auch hier wird darauf hingewiesen, dass viele der Subgruppen am einfachsten durch WTS diagnostiziert werden können [6].
Wenn durch umfassende (zyto)-genetische Analysen, zu denen bei der ALL Karyotypisierung, FISH, NGS und nicht zuletzt WTS gehören, keine Subtyp-definierenden Aberrationen gefunden werden, so ist eine ALL als „nicht anderweitig klassifiziert“ (NOS) zu benennen.
Auch innerhalb der Vorläufer-T-ZellNeoplasien konnten in den letzten Jahren große Fortschritte im Verständnis des genetischen Hintergrunds gemacht werden. Um jedoch genetische Subtypen mit klinischer Relevanz zu definieren, ist die Datenlage noch nicht ausreichend. Eine Neuerung in der WHO-Klassifikation betrifft jedoch die zuvor provisorische Entität der Natürliche-Killerzell(NK)-lymphoblastischen Leukämie/Lymphome, die nicht mehr einzeln aufgelistet wird [2]. Von der ICC wird dieser Subtyp als provisorische Entität eingruppiert [6].
AML-Subklassifikation – die Genetik entscheidet fast immer
Die Fortschritte der genetischen Forschung sind in der neuen Subklassifikation der AML deutlich zu erkennen. Die WHO unterscheidet bei der AML nun zunächst zwei große Subgruppen:
- die AML mit definierenden genetischen Veränderungen und
- die AML, definiert über Differenzierung. Die Gruppe der AML, NOS wird nicht mehr verwendet [3].
Einen großen Schritt in Richtung molekulargenetischer Diagnostik stellt die Anpassung der jeweiligen Blastenzahl (%) dar: So müssen in der Gruppe der AML mit definierenden genetischen Veränderungen nur noch bei den Entitäten AML mit BCR::ABL1-Fusion (um eine Unterscheidung zur CML gewährleisten zu können) und AML mit CEBPA-Mutation (aufgrund der bisherigen Datenlage) ≥ 20 % Blasten nachweisbar sein. Die Gruppe der AML mit biallelischer CEBPA-Mutation wurde geändert in AML mit CEBPA-Mutation, sodass hier nun sowohl monoallelische Mutationen, die dann allerdings in der „basic leucine zipper (bZIP)“-Region liegen müssen, oder biallelische Mutationen eingeschlossen werden. Auch bei der AML können neue oder seltene Subtypen der Gruppe der „AML mit anderen definierten genetischen Aberrationen“ zugeordnet werden. Sie bilden die Basis für zukünftige Evaluierungen ihrer klinischen und biologischen Relevanz. Die Entität der AML mit somatischen RUNX1-Mutationen entfällt als eigene Gruppe in der neuen Klassifikation [3].
Eine wichtige Änderung in der neuen WHO-Klassifikation betrifft die AML-MR (AML, „myelodyplasia-related“). Die Diagnose hierzu darf nach den neuen WHO-Kriterien nicht mehr rein morphologisch gestellt werden. Vielmehr wurden zytogenetische Kriterien aktualisiert sowie eine mutationsbasierte Einteilung, die auf acht verschiedenen Genen (ASXL1, BCOR, EZH2, SF3B1, SRSF2, STAG2, U2AF1 und ZRSR2) beruht, eingeführt [3].
Die Zytomorphologie allein bleibt ein wichtiger Bestandteil der Diagnostik, wenn keine klare genetische Subgruppe festgestellt werden kann. Der Stellenwert der Morphologie wird bereits im Namen „AML, definiert durch Differenzierung“ betont. Hier finden sich die Subtypen, die in der vorigen Version unter AML, NOS zusammengefasst waren. Innerhalb der „AML, definiert durch Differenzierung“ ersetzt die akute erythroide Leukämie die reine Erythrozytenleukämie [3].
Neben der WHO-Klassifikation wurden in diesem Jahr zudem neue ELN-Empfehlungen zur AML veröffentlicht, in denen auch die genetische Risikostratifizierung an den aktuellen Wissensstand angepasst wurde. Dies betrifft u. a. die FLT3-ITD-Ratio, CEBPAbZIP-in-frame-Mutationen, Myelodysplasie-assoziierte Genmutationen und zytogenetische Aberrationen. AML mit FLT3-ITD werden nun generell der intermediären Risikogruppe zugeordnet, unabhängig von der Allel-Ratio und dem Vorhandensein einer NPM1-Mutation. Des Weiteren werden hyperdiploide Karyotypen mit multiplen Trisomien (oder Polysomien) nicht mehr als komplexe Karyotypen und damit als prognostisch ungünstig eingestuft. Zudem wurde der AML definierende Blastenanteil neu definiert. Rekurrente genetische Aberrationen gelten hiernach ab ≥ 10 % Blasten im Knochenmark oder Blut als ausreichend für die Diagnose AML, mit Ausnahme der AML mit BCR::ABL1-Fusion [4]. Auch in der ICC wurde der definierende Blastenanteil bei einigen der genetisch definierten AML-Subtypen auf 10 % herabgesetzt. Die AML mit CEBPAbZIP-in-frame-Mutationen wird zudem als prognostisch günstig eingestuft, unabhängig davon, ob es sich um biallelische Mutationen handelt. Bei AML mit TP53-Mutationen handelt es sich auch hier um einen eigenen AML-Subtyp mit ungünstiger Prognose. Liegt eine reine Erythrozytenleukämie mit TP53-Mutation vor, so ist nach ICC eine AML mit TP53-Mutationen zu diagnostizieren [6].
MDS – Molekulargenetik findet Eingang in Risikoscore
In der aktualisierten WHO-Klassifikation ersetzt der neue Begriff myelodysplastische Neoplasien (MDS) den vorherigen Begriff myelodysplastische Syndrome (MDS). Diese Umbenennung betont den neoplastischen Charakter und stellt eine Vereinheitlichung zu den myeloproliferativen Neoplasien dar. Die Abkürzung MDS bleibt bestehen. MDS werden in zwei große Untergruppen kategorisiert: „MDS mit definierenden genetischen Veränderungen“ und „MDS, morphologisch definiert“ [3].
Die Gruppe der MDS mit definierenden genetischen Veränderungen beinhaltet die bekannte Subgruppe der MDS-5q sowie die beiden neuen Subgruppen der MDS-SF3B1 und MDS-biTP53 [2]. Die neue Gruppe der MDS-SF3B1 wird auch von der ICC eingeführt [6]. Nach WHO kann die Bezeichnung MDS mit geringen Blasten und Ringsideroblasten weiter für SF3B1-Wildtyp-Fälle verwendet werden, bei denen der Anteil an Ringsideroblasten bei ≥ 15 % liegt. Dies gewährleistet eine breite Anwendbarkeit und den Einschluss seltener anderer Treibermutationen. In die Subgruppe der MDS-biTP53 zählen Fälle mit zwei oder mehr TP53-Mutationen oder einer TP53-Mutation mit gleichzeitiger TP53-Deletion oder kopienzahlneutralem Verlust der Heterozygotie [3].
Die prognostische Bedeutung einer biallelischen TP53-Aberration [7] wurde in einer großangelegten Studie von Bernard et al. mit 2.957 Patient:innen bestätigt, die als Grundlage für die Entwicklung des neuen IPSS-M verwendet wurde. Der IPSS-M berücksichtigt neben klinischen und zytogenetischen nun im Vergleich zum IPSS-R auch molekulargenetische Befunde. Die Prognoseabschätzung wird in diesem neuen System anhand des Hämoglobinwerts, der Thrombozytenzahl, des Blastenanteils im Knochenmark, von zytogenetischen Befunden und molekulargenetischen Informationen zu 31 Genen vorgenommen. Hierbei werden besonders die Gene FLT3-TKD/ITD, KMT2A-PTD, TP53 und SF3B1 betont, die einen starken Einfluss auf die Prognose haben [5].
Bei morphologisch definierten MDS werden nach WHO nun die Untergruppen der MDS mit niedrigem Blastenanteil (MDS-LB) von den MDS mit erhöhten Blasten (MDS-IB) unterschieden. Als dritte morphologische Subgruppe ist die hypoplastische MDS (MDS-h) definiert. MDS-h zeigen ähnlich zur aplastischen Anämie eine signifikant verringerte Zellularität im Knochenmark [3].
Fazit
Insgesamt zeigen die neuen Klassifikationen, Richtlinien und Scores deutlich, dass eine integrierte Diagnostik wichtiger ist als je zuvor (Tab. 1).