Die verschlungenen Signalwege der Adipositas
Psycho- Neuro- Endokrino- Immunologie
Als wir noch studierten, war die Welt der Physiologie einfach: Muskeln dienten der Bewegung und Fettpolster der Energiespeicherung. Heute ist alles dank neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse komplizierter geworden: So weiß man inzwischen, dass Muskel- und Fettzellen an die hundert Botenstoffe ausschütten, über die sie mit dem gesamten Körper kommunizieren. Und auf verschlungenen Signalwegen sogar mit unserer „Seele“.
Bei mechanistischer Sichtweise scheinen die Zusammenhänge relativ klar: Wer sich viel bewegt, verbraucht viel Energie und bleibt schlank; wer nur vor dem Fernseher sitzt und Chips futtert, setzt Fett an. Und wer zu fett ist, neigt womöglich deshalb zu seelischen Störungen aus dem Formenkreis der Depression, weil er sich abgelehnt fühlt und deshalb traurig wird. Das klingt plausibel, aber so einfach ist es nicht.
In den aktuellen S3-Leitlinien für Erwachsene und Kinder setzen sich zahlreiche Fachgesellschaften für Psychologie und Psychosomatik ausführlich mit gestörtem Essverhalten, sozialer Diskriminierung und ähnlichen seelischen Phänomenen auseinander, ohne jedoch auf mögliche somatische Ursachen einzugehen. Dabei finden sich unter den oben genannten Botenstoffen durchaus Vertreter, die als Botschafter zwischen einem zu dicken Körper und einer gequälten Seele – oder schlichter ausgedrückt zwischen Fettgewebe und Gehirn – infrage kommen.
Adipokine und Zytokine
Auch wenn die Forschung auf diesem Gebiet noch am Anfang steht, kristallisieren sich zwei Substanzgruppen heraus: Die Adipokine werden vorwiegend oder ausschließlich von Fettzellen produziert, die Zytokine wurden bislang eher im Immunsystem verortet, stammen aber nach neueren Studien ebenfalls zu einem nicht unbeträchtlichen Teil aus Muskel- und Fettgewebe.
Als erstes Adipokin wurde 1994 das Leptin entdeckt, das dem Gehirn signalisiert, ob ausreichend Energiereserven vorhanden sind. Je größer die Fettdepots, desto mehr Leptin gelangt über die Blutbahn zum Nucleus arcuatus im Hypothalamus und hemmt dort das Hungergefühl. Fettleibige Menschen leiden häufig an einer Leptin-Resistenz, und bei einigen wurden auch erbliche Varianten mit funktionellem Leptinmangel gefunden. Bei diesen Personen ist also das Sättigungsgefühl gestört; sie neigen zu Hyperphagie („Fress-Sucht“) mit der Folge einer massiven Fettsucht.
Antagonistisch zum Leptin wirkt Ghrelin, das aus dem Magen stammt, ebenfalls an den Nucleus arcuatus bindet und dort das Hungergefühl stimuliert. Interessanterweise wirkt Ghrelin zugleich angstlösend, was evolutionär Sinn macht: Wenn der Hunger nagte, musste sich der Steinzeitmensch möglichst angstfrei auf die Jagd nach einem nahrhaften Mammut machen.
Unter den aus psychologischer Sicht interessanten Zytokinen ist das Interleukin-6 (IL-6) hervorzuheben. In seiner löslichen Form wirkt es entzündungsfördernd; zudem dockt es an Rezeptoren im Gehirn an, wo es ein depressionsähnliches Krankheitsgefühl auslöst.
Bei Adipösen stammt überraschenderweise bis zu einem Drittel dieses Botenstoffs aus dem Fettgewebe, was eine Erklärung dafür bieten könnte, warum dicke Menschen gehäuft an Depression und Dysthymie leiden: Durch die Dauerstimulation mit IL-6 geht der Körper fälschlich von einer ständigen Bedrohung – zum Beispiel durch einen Infektionsherd – aus und reagiert mit Antriebslosigkeit, Appetitlosigkeit und Angstgefühlen (sogenanntes sickness behaviour).
Die Wechselwirkungen zwischen Psyche und Immunsystem sind derzeit Gegenstand intensiver Forschung und haben zur Gründung eines eigenen Fachgebiets, der Psychoneuroimmunologie (PNI) oder auch Psychoneuroendokrinoimmunologie (PNEI) geführt[1]. Was derartige Bandwurmbezeichungen vor allem zum Ausdruck bringen, ist die Erkenntnis, dass bei der Interaktion zwischen Körper und Seele letztlich wohl alles mit allem zusammenhängt.
[1] Schubert C. Psychoneuroimmunologie und Psychotherapie. Schattauerverlag 2015
Autoren:
Prof. Dr. Erich Kasten
Medical School Hamburg
www.erich-kasten.de
Prof. Dr. Georg Hoffmann
Mitglied der Redaktion