Jenseits von Kreatinin und Harnstoff

Zeitgemäße Nierendiagnostik

Für die Diagnostik des akuten und chronischen Nierenversagens steht heute eine Vielzahl sensitiver und – mehr oder weniger – spezifischer Biomarker zur Verfügung. Kreatinin sollte nur noch zur Schätzung der GFR verwendet werden.

Auf Intensivstationen gehört das akute Nierenversagen (ANV) – bis hin zur Dia­lysepflichtigkeit – zum Alltag. Es geht stets mit hohen Kosten und der Gefahr zusätzlicher schwerer systemischer Komplikationen einher. Wird ein ANV überstanden, steigt das Risiko für eine später auftretende chronische Niereninsuffizienz (cNI).
Die Liste der pathogenen Faktoren ist lang; nur beispielhaft aufgeführt seien hier Hypovolämie (Blutungen), Hypoxie, Hypotension unter Narkose, Toxine – zum Beispiel bei Pilzvergiftungen (Orellanus, Phalloidin) oder Infektionen (Perforine, Leuko-, Shigatoxine etc.) – sowie poten­ziell nephrotoxische Medikamente wie etwa Antibiotika (Aminoglykoside), antivirale Agentien (Indinavir, Ganciclovir, Foscarnet), nichtsteroidale Antirheumatika, hochdosierte ACE-Hemmer, Kontrastmittel und Onkotherapeutika (Cisplatin, Bisphosphonate, anti-VEGF-Wirkstoffe).

Die stille Katastrophe

Im Gegensatz zum ANV verläuft die Mehrzahl primär chronischer Nieren­erkrankungen lange – oft sogar bis zum präterminalen Stadium – symptomlos. In der Laienpresse wird dies gern als „stille Katastrophe“ oder silent killer tituliert.  Heute sind die häufigsten Ursachen für ein cNI der Diabetes mellitus und der Bluthochdruck, seltener entzündliche Nierenerkrankungen.
Die jährlichen Kosten liegen allein für die Dia­lysebehandlung dieser Patienten in Deutschland bei weit über fünf Milliarden Euro, und über 8.000 Dia­lysepatienten stehen auf der Warteliste für Nierentransplantationen. Oberstes Ziel muss es daher sein, eine Nierenkrankheit frühzeitig zu diagnostizieren und zu therapieren.

Klassische Marker
Eine Verschlechterung der Nierenfunktion wird seit rund 100 Jahren über den Kreatininanstieg im Serum verfolgt – mit den bekannten Nachteilen geringer Empfindlichkeit (Kreatinin-blinder Bereich) und der Abhängigkeit von Geschlecht und Muskelmasse. Deshalb sollte Kreatinin nur noch zur Abschätzung der glomerulären Filtrations­rate (eGFR = estimated GFR) herangezogen werden, zum Beispiel nach der MDRD- oder der CKD-Epi-Formel.
 „Goldstandard“ ist heute die auf Cys­tatin C basierende eGFR, die nicht durch Geschlecht und Muskelmasse beeinflusst wird und von den Kreatinin-basierten Werten erheblich abweichen kann. Jede auch nur grenzwertig erniedrigte eGFR muss ernst genommen werden. Sie geht mit akzelerierter Arteriosklerose der Media und hohem Risiko für Infekte einher und ist mit erhöhter Mortalität assoziiert.
Wenig korreliert zur GFR ist die Serum-Harnstoffkonzentration. Sie hat ihren klinischen Stellenwert in der Beurteilung des Ernährungsstatus und reflektiert eine anabole oder katabole Stoffwechsellage, ist aber abhängig von der Leberfunktion sowie von Medikamenten (Glucocorti­coiden), intestinalen Blutungen etc.

ANV versus ANS/AKI

Der Begriff ANV (Stadium 1 bis 5 nach den sog. RIFLE Kriterien) wird zunehmend ergänzt bzw. ersetzt durch die Sichtweise einer „akuten Nierenschädigung“ (ANS oder AKI = acute kidney injury). Letztere soll einem ANV – also dem eGFR-Abfall – vorausgehen und ist argumentative Basis der sogenannten renalen Bio­marker (s. u.).
Pathophysiologisch gesehen handelt es sich hier um zwei völlig verschiedene Aspekte: Ein ANV kann prärenal, renal oder postrenal zum eGFR-Abfall führen und ist – falls zirkulatorisch, also prärenal bedingt – reversibel. Die ANS geht dagegen a priori nicht von einer verminderten eGFR, sondern von einer primären tubulären Zellschädigung aus, die schließlich in ein ANV münden kann.

Krankheitsspezifität

Bei autoimmunologisch bedingten Nierenerkrankungen treten diagnostisch und prognostisch relevante Autoantikörper gegen Phospholipase-A2-Rezeptor (primäre membranöse Nephritis), glomeruläre Basalmembranen (pulmo­renale Syndrome), α-Galaktosidase A (Morbus Fabry) und andere zelluläre Strukturen (ANA, ENA, c-, p- bzw. x-ANCA) auf. Alle übrigen Biomarker beschreiben in der Regel eher das pathogenetische Geschehen , das zur Niereninsuffizienz führt, zum Beispiel den Zelluntergang (tubuläre Atrophie) oder eine krankhafte Bindegewebsvermehrung (interstitielle Fibrose) .
Die hohe Suszeptibilität definierter Nephronabschnitte gegenüber Noxen betrifft besonders das S3-Segment des proximalen Tubulus und Teile des dis­talen Konvo­luts (vor allem die Hypoxie-sensitiven medullären Teile der aufsteigenden Henle‘schen Schleife). Schon geringe Schädigungen führen zur Ablösung von Glykoprotein-Mikro­domänen der apikalen Membran­oberflächen im proximalen Tubulus und zu deren Ausscheidung im Harn; man spricht deshalb von „Frühe-Phasen-Parametern“. Dazu gehören zum Beispiel Alaninaminopeptidase (CD13), γ-Glutamyltranspeptidase, Angiotensinase A, Dipeptidylaminopeptidase-IV (CD26), neutrale Endopeptidase (CD10), Con-A- und andere Lektin-affine Membranstrukturen sowie Komponenten des Zytosols (LDH, β-NAG, β-Galaktosidase, Glutathion-S-Transferase).

Renaissance alter Bekannter

Erstmals in den 1920er-Jahren wurde das Auftreten Nierenzell-assoziierter Eiweiße im Harn beschrieben, und vor über 30 Jahren zeigten wir mithilfe poly- und monoklonaler Antikörper, dass prinzipiell alle Strukturproteine der Niere im Rahmen dieser „Gewebsproteinurie“ aus vulnerablen Kompartimenten freigesetzt werden können[1]. Das gilt auch für die sogenannten „neuen“ Biomarker wie etwa KIM-1 (kidney injury molecule), NGAL (neutrophile gelatinase-associated lipo­calin), TIMP 1 und 2 (tissue inhibitor of metalloproteinases) oder IGFBP-7 (insulin-like growth factor binding protein); sie sind in Wirklichkeit alte Bekannte, die derzeit eine Renaissance erleben. Inzwischen ist die Liste einschlägiger Biomarker sehr lang und wächst beständig weiter (zum Beispiel Calmodulin, Cubilin, Fatty Acid Binding Protein, Kallikrein, Megalin, Osteoactivin, Urokinase,Villin sowie das weiter unten detaillierter besprochene THG = Tamm-Horsfall Glykoprotein).

Pathomechanismen
All diese Proteine sind – mit Ausnahme  von THG – nicht organspezifisch; sie werden in vielen Geweben exprimiert und finden sich auch im Serum. Pathognomonisch ist der Mechanismus ihres Erscheinens im Harn. Mit Antikörpern gegen affinitätsgereinigte Membranvesikel von 100–600 nm Durchmesser lässt sich verfolgen, wie diese mit Strukturproteinen bepackt bei schwereren akuten Schädigungen von Tubuluszellen (Transplantatabstoßung, Urosepsis, Kontrastmittelnephropathie) exfoliiert und im Harn eliminiert werden.
Im Serum lassen sich Biomarker bestimmen, die bei Nieren­insuffizienz in ähnlicher Weise wie Kreatinin und Cystatin C ansteigen (zum Beispiel polyklonale freie Leichtketten, β2-Mikroglobulin). Differenzialdiagnostisch wertvoll sind vor allem Plasmapro­teine, die in spezifischer Weise von den Nieren verstoffwechselt werden und Hinweise auf das betroffene Kompartiment geben (Albumin und IgG als Indikator eines glomerulären Permeabilitäts- und -selektivitätsdefekts, α1-Mikroglobulin als Indikator tubulärer Reabsorptionsdefekte).
Als Risiko- oder Outcome-Marker bei Nierenerkrankungen eignen sich schließlich der Anteil proinflammatorischer Blutmonozyten vom Subtyp CD14+CD16+, ein Abfall der TLR- und HLA-DR-Expression, sICAM-1 (endotheliale Dysfunktion), Urokinase-Plasminogen-Aktivator, CRP, Serum-Amyloid A, IL-6, CD154 und asymmetrisches Dimethylarginin. Zytokine und Chemokine im Harn, die mit aktivierten Leukozyten lokal freigesetzt werden (MIF, MIG, MCP-1, sCD14, sCD8, sCD4, sCD30, CXCL16, IL-6, IL-18), spiegeln den Grad der Entzündung wider.

Einschränkungen

Es liegt nahe, in der Nierendiagnostik Harn als bevorzugtes Untersuchungsmaterial einzusetzen, um eine möglichst hohe Organ- und Krankheitsspezifität zu gewährleisten. Einschränkend ist allerdings  festzuhalten, dass Harnproben vielfältigen präanalytischen Störfaktoren unterliegen und dass die postanalytische Beurteilung unter unklaren Bezugsgrößen (pro Volumen, pro g Kreatinin usw.) sowie schlecht definierten Entscheidungswerten leidet. Ab wann sind Veränderungen im zeitlichen Verlauf klinisch relevant, welche therapeutischen Optionen ergeben sich daraus, wo liegt das interventionelle Zeitfenster? Nicht immer gibt es klare Antworten auf diese entscheidenden Fragen.
Während tubuläre Biomarker bei ANS in Harnproben typischerweise ansteigen und wieder abfallen, zeigt sich bei chronischen Nephropathien, die durch Tubulusatrophie und Fibrose gekennzeichnet sind, bisher keine für eine sinnvolle Anwendung geeignete Dynamik. Ansteigende Biomarkerkonzentrationen bei ANS interferieren mit parallel ablaufenden kompensatorischen Wachstums- und Reparationsprozessen, was die Interpretierbarkeit erheblich einschränkt. Neben atrophischen Epithelien mit Verlust einschlägiger Markermoleküle finden sich auch Nephrone mit erhöhter Protein­biosynthese, wie wir in quantitativen Bildanalysen an Humannierenschnitten nachweisen konnten.



Neue Option: Uromodulin

Im Gegensatz zu allen oben genannten Biomarkern ist das Tamm-Horsfall Glykoprotein oder Uromodulin (THG, Umod) nierenspezifisch; es kommt im aufsteigenden Teil der Henle‘schen Schleife GPI-gebunden in Koexistenz mit Elektrolyttransportern und hypoxie­induzierbaren Faktoren vor und wirkt dort u. a. nephroprotektiv (Defensin).
Entgegen traditioneller Ansicht gelangt Umod über einen aktiven Transportvorgang nicht nur in den Harn, sondern auch physiologischerweise über einen zweiten Shuttle in das Blut – eine Eigenschaft, die bisher von keinem anderen Nieren­antigen bekannt ist. Ursprünglich über einen Chemi­lumineszenzassay, neuerdings auch über einen ELISA, finden wir bei Niereninsuffizienten gegenüber Gesunden streng stadienabhängig und zur eGFR passend erniedrigte Plasmawerte.
Die geringsten Umod-Konzentrationen weisen Dialysepatienten auf. Wird eine Transplantatabstoßung überwunden bzw. eine funktionserhaltende Therapie optimiert, steigen die Spiegel als „Vitalitätskriterium“ wieder an. Bemerkenswert ist auch, dass Polymorphismen im Umod-Gen besonders eng mit der Entwicklung einer arteriellen Hypertonie und terminalen Niereninsuffizienz assoziiert sind.
Im Blut zirkulierendes Umod erscheint uns deshalb als ein geeigneter Kandidat, um die zellulär-strukturelle Integrität und Funktion einerseits und die Vulnerabilität des Nephrons andererseits stellvertretend für die gesamte Niere – sowohl im Kontext des aktuellen pathologischen Geschehens, als auch prognostisch – zu beschreiben. Künftige Untersuchungen müssen zeigen, wie sich therapiebegleitende Analysen auf den klinischen und ökonomischen Outcome auswirken. 


Prof. Dr. Jürgen Scherberich, KfN München




[1] Scherberich, J. E. Des Kaisers neue Kleider – die unendliche Geschichte der Gewebspro­teinurie (Histurie) renaler Biomarker. Nieren- & Hochdruckkrankheiten 2012; 41:436–50