„Wir haben in den letzten Jahren immer mehr Tools im Rahmen der molekularen Medizin, im Rahmen der Bildgebung und im Rahmen zum Beispiel auch der Digitalisierung erhalten, um unseren Patient:innen eine zielgerichtete, somit präzisere und damit auch verträglichere und wirksamere Therapie zukommen zu lassen“, eröffnete Dr. med. Carsten-Oliver Schulz, Mitglied des DGHO-Vorstands, die virtuelle DGHO-Frühjahrstagung 2023.
Präzisionsonkologie in die Breite tragen
Auf die Möglichkeiten der Präzisionsonkologie ging Dr. med. Benedikt Westphalen, München, ein. Das Versprechen der Präzisionsonkologie ist seiner Meinung nach, die Krebstherapie basierend auf einem molekularen Profil zu individualisieren, um damit nebenwirkungsärmer und kosteneffizienter die richtige Therapie für den richtigen Erkrankten zur richtigen Zeit auszuwählen und letztlich das klinische Outcome zu verbessern. „In den 22 Jahren, die es die personalisierte Onkologie nun gibt, haben wir dieses Versprechen häufig ausgesprochen, aber nur bedingt halten können. Jetzt sind wir an einer Stelle angekommen, wo wir beginnen, dieses Versprechen nicht nur in einigen wenigen Erkrankungen zu halten“, erklärte der Präzisionsonkologe. Die Methoden zur Analyse des Tumorgenoms reichten hierbei von der Einzelgendiagnostik mit relativ wenigen zu gewinnenden Informationen für relativ niedrige Kosten bis hin zur Analyse des gesamten Genoms, mithilfe dessen man viele Informationen zu hohen Kosten bekomme, sagte er. „Etwa 35–40% unserer Patient:innen mit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen weisen eine therapeutische Zielstruktur auf, aber – und dort liegt das Problem – nur etwa 10–12% der Patient:innen erhalten dann tatsächlich eine darauf zielende Therapie“ wusste Westphalen [1]. „Deshalb ist ein breiter und vor allem gleichartiger Zugang zu Diagnostik und Therapie notwendig, um das volle Potenzial der Präzisionsonkologie zu entwickeln – es ist ganz kritisch, dass wir uns darüber Gedanken machen, wie wir personalisierte Onkologie in die Breite tragen können“, insistierte er. Dies sei auch die zentrale Forderung eines internationalen Autorenteams (zu dem auch Westphalen gehörte), das sich in einem Review im Journal Nature Medicine im Jahr 2022 mit den Herausforderungen der Präzisionsonkologie auseinandergesetzt hat [2]. „Wir müssen aufhören, diagnostische Tests künstlich von der Behandlungsplanung- und -durchführung zu trennen und einen stärker integrierten Versorgungsansatz anstreben. Darüber hinaus geht es nicht nur um die personalisierte Behandlung, sondern es geht auch um personalisierte Früherkennung und personalisierte Prävention“, so Westphalen.
CML-Therapiesteuerung in Remission
Eine Revolution in der personalisierten Onkologie ist nach Meinung Westphalens die Zulassung des Tyrosinkinaseinhibitors (TKI) Imatinib im Jahr 2001 für die Behandlung des chronischen myeloischen Myeloms (CML) gewesen, die auf der Entdeckung des Philadelphia-Chromosoms basierte. „Die Begeisterung dieser Entdeckung, dass man eine Erkrankung, die vormals regelmäßig zum Tode führte, in eine chronische Erkrankung überführen konnte, hat einen großen Drive in die personalisierte Onkologie gebracht“, freute er sich. „CML-Patient:innen haben eine fast normale Lebenserwartung und die CML-abhängigen Todesfälle machen inzwischen insgesamt unter 5% aus“, bestätigte Prof. Susanne Saußele, Mannheim. Denn mittlerweile sind neben Imatinib noch weitere fünf TKI zur CML-Therapie zugelassen: Die Zweitgenerations-TKI Dasatinib, Nilotinib und Bosutinib sowie das Drittgenerations-TKI Ponatinib und seit Kurzem auch Asciminib. Die fünf älteren TKI docken an die ATP-Bindungsseite des BCR-ABL-Proteins an, Asciminib hingegen inhibiert als neuen Wirkmechanismus die Myristoyl-Bindestelle und ist deshalb der erste Vertreter der sogenannten STAMP-Inhibitoren. Von 100 Patienten unter Zweitgenerations-TKI in der Erstlinie würden 60–70% eine tiefe molekulare Remission (DMR: definiert als MR4 oder besser) erzielen, 10–20% eine komplette zytogenetische Remission ohne DMR und je 3–5% würden primäre oder sekundäre Resistenzen auf TKI entwickeln [3], erklärte Saußele. Patient:innen, die eine gute molekulare Remission (MMR: BCR-ABL≤0,1%) erreichten, hätten einen Überlebensvorteil, sagte sie.
CML: Versuch einer therapiefreien Remission nach ELN-Kriterien
Allerdings habe die TKI-Therapie einen erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität: „Vor allem unter 60-jährige leiden stärker unter Lebensqualitätseinschränkungen verglichen mit der Normalbevölkerung als Patient:innen, die etwas älter sind“, erläuterte sie. „Insbesondere die Fatigue ist unter der TKI-Therapie ein großes Problem, wobei wir im täglichen Umgang mit den Patient:innen nur wenig darauf eingehen“, teilte sie ihre Erfahrungen mit. „Die Therapiesteuerung bei der CML in Remission ist ein Balanceakt zwischen Lebensqualität und Effektivität der Therapie, die Ausrichtung nach dem Therapieziel ist absolut essenziell“, forderte Saußele. Für Patient:innen mit einer guten Remission komme der Versuch einer therapiefreien Remission (TFR) infrage, so die Onkologin. Für einen TFR-Versuch hat das European LeukemiaNet im Jahr 2020 Minimalkriterien festgelegt [4], u.a. müsse eine TKI-Therapie von im Minimum fünf Jahren erfolgt sein und eine DMR-Dauer von mindestens zwei Jahren erreicht worden sein. Ein Update der ELN-Empfehlungen sei bereits in Arbeit, stellte Saußele in Aussicht.
Nach den aktuellen Daten der internationalen EURO-SKI-Studie profitieren vor allem jüngere CML-Patient:innen (18–39 Jahre und 40–59 Jahre) vom Absetzen des TKI, was die Lebensqualität betrifft [5]. So reduzierte sich in dieser Altersgruppe nach dem TKI-Stopp statistisch signifikant der Leidensdruck, der durch eine Fatigue ausgelöst wurde. Ältere zeigten hingegen keine Verbesserungen in der Lebensqualität. Da es auch zu späten Verlusten der TFR kommen könne, sei es dringend anzuraten, die Patient:innen gut zu überwachen, warnte Saußele.
CML: TKI nach Toxizitätsprofil auswählen und Dosierung anpassen
Sei indes ein Absetzversuch nicht möglich oder war dieser nicht erfolgreich, müssten die Betroffenen wahrscheinlich lebenslang TKI einnehmen, sagte Saußele. „In diesem Fall ist es relevant, die Nebenwirkungen der TKI zu beachten, es hat jeder so seine Krux“, empfahl sie [6]. „Insbesondere sind die Gefäßnebenwirkungen unter Nilotinib und Ponatinib zu erwähnen, die dauerhaft vermieden werden müssen“, warnte sie. Der neue TKI Asciminib habe bisher ein sehr günstiges Toxizitätsprofil. „Die Daten sind aber noch sehr frisch, man sollte es also trotzdem mit Bedacht einsetzen“, sagte Saußele.
Mit einer Adaptation der TKI-Dosierungen könne man versuchen, auftretende Nebenwirkungen zu umgehen, auch eine Umstellung auf einen anderen TKI sei möglich – dieser Schritt sollte aber ihrer Erfahrung nach wohl überlegt sein. „Ich sehe oft, dass zu früh umgestellt wird und eine mögliche Adaptation von TKI-Dosierungen nicht immer bis zum Ende berücksichtigt werden, dann hat man am Schluss gar keinen TKI mehr zur Auswahl“, gab sie zu bedenken.
Therapiesteuerung beim multiplen Myelom: Wann beginnen, stoppen oder wechseln?
Ähnlich wie beim CML erfolgt beim multiplen Myelom (MM) eine Abwägung über die Intensität der Therapie. „Wir haben auf der einen Seite Patient:innen, die immer länger leben und wo es um deren Lebensqualität geht: Können wir hier die Therapie begrenzen? Auf der anderen Seite ist es so, dass auch heute die meisten Patient:innen an ihrem Myelom versterben und deshalb müssen wir hier die Therapie sogar noch intensivieren“, erklärte PD Dr. Leo Rasche, Würzburg. Hinzu komme, dass etwa 15–20% der MM-Patient:innen mit Hochrisikoerkrankungen relativ früh einen Rückfall nach zwei bis drei Jahren erleiden und daran versterben. „Hier geht es um Überlebensverlängerung, denn es gibt keine Lebensqualität ohne Leben“, sagte Rasche.
MM: Therapiestart nach SLiM-CRAB-Kriterien
Der Therapiestart erfolge, wenn die sogenannten CRAB-Kriterien erfüllt seien, wozu Hyperkalzämie, Nierenversagen, Anämie und Knochenläsionen gehörten, aber auch bei Vorliegen von SLiM-CRAB-Kriterien: über 60%ige Knochenmarkinfiltration, Freie-Leichtketten-Ratio (FLC) >100 oder mehr als eine morphologische Läsion in der Magnetresonanztomografie (MRT). „Manche Patient:innen haben nur eine geringe Knochenmarkinfiltration, aber hier kann das monoklonale Protein, was von den Tumorzellen sezerniert wird, eine Polyneuropathie auslösen, eine AL-Amyoloidose, Kryoglobulinämie, LCDD/HCDD usw. – auch in diesen Fällen würden wir definitiv das MM behandeln“, erklärte er. Abgesehen davon solle man eher zurückhaltend therapieren, insbesondere das Smoldering Myelom (SMM), warnte er. Er bezog sich dabei auf die aktuellen Daten der GEM-CESAR-Studie [7] und der Ascent-Studie [8], in der Betroffene mit einem asymptomatischen Hochrisiko-SMM intensiv behandelt worden waren. „Die Vermeidung von Endorganschäden scheint hierbei zwar möglich zu sein, aber es treten dafür Nebenwirkungen und sogar Todesfälle auf – und das bei asymptomatischen Menschen, das finde ich kritisch“, sagte er. Denn in der isländischen iStoppMM-Studie [9] habe sich gezeigt, dass ein Smouldering Myelom bei jedem 200. Menschen vorliege. „Nur bei einem Bruchteil dieser Menschen wird ein MM tatsächlich ausbrechen und behandlungsbedürftig werden“, folgerte Rasche. Eine vielversprechende Möglichkeit, um das Risiko für das Fortschreiten in ein symptomatisches MM zu berechnen, sei das PANGEA-Modell [10]: der Risikorechner ist unter pangeamodels.org zugänglich.
MM: MRD-gesteuerte Lenalidomid-Erhaltung
Bei MM-Patient:innen wird laut Rasche nach einer Induktionsphase, der Hochdosistherapie mit autologer Stammzelltransplantation (ASCT) und möglicherweise anschließender Konsolidierung die Lenalidomid-Erhaltungstherapie eingesetzt, die bis zur Krankheitsprogression zugelassen ist. Diese sei aber mit Nebenwirkungen wie bspw. Diarrhö, Hautausschlag, Zweitmalignome oder Leberversagen verbunden. Bei Erkrankten mit einem Standardrisiko könne die Lenalidomid-Erhaltung deshalb nach vier Jahren gestoppt werden, „sofern die Patient:innen diese so lange überhaupt tolerieren“, empfahl er, u.a. basierend auf den Erkenntnissen aus der MYELOMA-XI-Studie der UK Myeloma Research Alliance [11]. Darin hatte sich nur bis zu vier Jahre nach der ASCT ein deutlicher Vorteil im progressionsfreien Überleben durch die Lenalidomid-Erhaltungstherapie ergeben. Im Gesamtüberleben konnte bisher nach Darstellung von Rasche in keiner Studie ein eindeutiger Vorteil durch die Erhaltungstherapie nachgewiesen werden.
Wie in der Phase-II-Studie Master nachgewiesen wurde, könnte die Lenalidomid-Erhaltungstherapie gesteuert anhand der minimalen Resterkrankung (MRD) abgesetzt werden [12]. „Für Hochrisiko- oder Ultrahochrisikopatient:innen funktioniert das so aber noch nicht“, berichtete er. „Bei Hochrisikopatient:innen ist das Ziel eine Komplettremission, eine negative MRD und negative Bildgebung, um diese zu erreichen muss ggf. das Therapieregime gewechselt werden“, sagte er.
PET zur Therapiesteuerung entscheidend
Generell reiche die MRD-Bestimmung allein nicht aus: „Es kann gut sein, dass Patient:innen im Knochenmark des Beckenkamms sauber sind, aber dafür an anderen Stellen des Skelettsystems noch aktive fokale Läsionen haben und deshalb machen wir die MRD-Diagnostik immer gemeinsam mit funktioneller Bildgebung“, sagte Rasche. Die Positronen-Emissions-Tomografie (PET) zur Therapiesteuerung sei zwar weltweit Standard in einer zeitgemäßen Onkologie, sei aber für viele Entitäten keine regelhafte Leistung der gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland, ergänzte Prof. Bernd J. Krause, Rostock. Deshalb habe DGHO/Deutsche Gesellschaft für Nuklearmedizin (DGN) im Juni 2021 die Initiative „PET in der Onkologie – Einsatz zur Therapiesteuerung“ gestartet, um mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss ins Gespräch zu kommen.
Patientenrelevante Endpunkte in Therapieentscheidung einbeziehen
Ein weiteres Instrument zur Therapiesteuerung sind Patient Reported Outcomes (PROs), also laut PD Dr. med. Markus Schuler, Berlin, die Beurteilung des Gesundheitszustandes durch die Patient:innen selbst, der nicht durch Dritte interpretiert, bewertet oder verändert dokumentiert wird. Erhoben werden die PROs anhand von spezifischen Fragebögen zu unerwünschten Symptomen sowie sozialer, emotionaler und physischer Funktionalität. „Diese sind komplementär zur Behandlereinschätzung, denn es ist nicht so, dass wenn ich das eine habe, auf das andere verzichte“, erklärte Schuler. Die PROs gehen dann in die partizipative Entscheidungsfindung (Shared Decision Making, SDM) ein, bei der die Ärzt:innen und die Patient:innen gemeinsam das Behandlungsziel und die Behandlungsstrategie festlegen.
„Wenn ich die Einbindung in die Entscheidung und die Akzeptanz der Patient:innen erreiche, habe ich möglicherweise ein besseres Outcome“, sagte der niedergelassene Onkologe. „Wir können die Symptomkontrolle und die Lebensqualität verbessern, wir können aber auch andere Endpunkte wie die Reduzierung von Krankenhausaufenthalten, die Zufriedenheit der Patient:innen mit der Behandlung verbessern und möglicherweise sogar das Gesamtüberleben“, fuhr er fort. So hatte sich in der Phase-III-Studie CAPRI [13] gezeigt, dass eine digitale App zur Meldung von Symptomen und die Navigation dieses Remote Monitorings durch medizinisches Personal zusätzlich zur üblichen Symptomkontrolle bei Patient:innen mit oraler Krebstherapie die relative Dosisintensität der Tumortherapeutika erhöhen konnte (93,4 vs. 89,4% in Kontrollgruppe, p = 0,04), was laut Schuler Vorteile für das Überleben bieten kann. Ebenso verkürzte sich durch die digitale Nachbeobachtung der Krankenhausaufenthalt (2,82 vs. 4,44 Tage, p=0,02) und die Häufigkeit für Toxizitäten von Grad ≥3 (27,6 vs. 36,9%; p=0,02). Darüber hinaus verbesserte sich die Patientenerfahrung (Patient Assessment of Chronic Illness Care score: 2,94 vs. 2,67; p=0,01), was wesentlich sei, da die Adhärenz der Patient:innen relevant für die Therapieentscheidungen sei, so Schuler.
Evidenz für die Vorteile von der Erfassung von PROs und des SDM sei also vorhanden, problematisch sei eher die Translation in die klinische Routine. „Deshalb müssen die Anwendungen zeitlich ressourceneffektiv sein und wir müssen dadurch die Partizipation der Patient:innen und letztlich aller Teilnehmenden erreichen – wir brauchen Softwarelösungen, die dafür geeignet sind, wir brauchen eine klare Fragebogenselektion und Alert Notifications, damit auch ein Reaktionsmuster erzeugt werden kann“, schloss er.