Wechselwirkungen
Editorial
Trillium Diagnostik 2018; 16(4): 223
Tom Patterson, Psychologieprofessor an der Universität von San Diego, lag Mitte 2016 nach wochenlangem Koma im Sterben. Während eines Ägyptenurlaubs hatte er sich eine Infektion mit Acinetobacter baumannii (Spitzname Iraquibacter) eingefangen, gegen den auch Reserveantibiotika nichts ausrichten konnten.
In dieser verzweifelten Situation ergriff Pattersons Frau Steffanie die Initiative. Als Leiterin am Global Health Institute in San Diego war sie mit der – bereits vor 100 Jahren gegen Pest und Cholera eingesetzten – Bakteriophagentherapie vertraut. Obwohl es für Viren, die Bakterien zerstören können, in den USA keine Zulassung gab, erreichte sie eine Sondergenehmigung. Der Phagencocktail wurde intraperitoneal und intravenös verabreicht, und nach drei Tagen schlug Patterson die Augen wieder auf. Inzwischen ist er weitgehend genesen.
In der Rubrik Mikrobiologie berichten wir über derartige neue antimikrobielle Strategien. Dabei spielen natürliche Wechselwirkungen zwischen nützlichen und schädlichen Bewohnern unseres Körpers eine zunehmend wichtigere Rolle. So kennen wir den Begriff "Quorum" als Mindestwahlbeteiligung vor allem aus der Politik, aber auch Bakterien betreiben Bevölkerungspolitik, indem sie die nötige Mindeststärke ihrer Population messen (sog. Quorum Sensing) und bei Bedarf Wachstumssignale an die Kollegen aussenden. Eine der neuen Strategien besteht deshalb darin, diese Signale zu modulieren, um pathologisch gestörte mikrobielle Gleichgewichte wieder herzustellen (S. 233).
Von Wechselwirkungen handelt auch die Rubrik Hämostaseologie, hier allerdings nicht zwischen Mikroorganismen, sondern zwischen Molekülen. Bei der Lektüre der Fachartikel verfestigt sich der Eindruck, dass im Gerinnungssystem eigentlich alles mit allem wechselwirkt, sodass es nicht ganz einfach ist, den Überblick zu behalten – ein Grund, warum Kliniker in diesem Bereich besonders gern auf die Expertise des Labors zurückgreifen. Der CME-Fragebogen zu neuen Entwicklungen bei der Therapie der Hämophilie erlaubt es, diese Expertise unter Beweis zu stellen (S. 249).
Mit den Hämophilien leiten wir schließlich zum Schwerpunktthema der Ausgabe über: Man kennt mittlerweile rund 8.000 – zum größten Teil genetisch bedingte –Leiden, die in die Rubrik "Seltene Erkrankungen" (SE) fallen. Hier ist die Grenze der Merkfähigkeit menschlicher Gehirne endgültig überschritten, und der Ruf nach Künstlicher Intelligenz wird lauter (S. 270). Ein Beispiel, wie man mit Data-Mining-Techniken die diagnostische Odyssee der von einer Seltenen Erkrankung Betroffenen verkürzen könnte, finden Sie auf S. 273.
Es wäre allerdings naiv zu glauben, dass Computer die Medizin des 21. Jahrhunderts erklären können, ohne dass die in der Medizin Tätigen die dahinter stehenden Algorithmen wenigstens im Ansatz verstehen und anwenden können. Deshalb finden Sie in diesem Heft auch einen Flyer mit dem Titel "Digitalisierung in der Labormedizin". Die darin angekündigten Kurse sollen helfen, dieses Grundverständnis zu fördern.