Das Studium dieser Veränderungen und ihrer Wirkungen auf das Wachstum der Tumoren hat nicht nur zur Entwicklung spezifischer Therapien geführt, die diese Tumoren oft sehr viel wirksamer und nebenwirkungsärmer bekämpfen als die herkömmlichen Chemotherapien. Die neuen Erkenntnisse haben vielmehr auch dazu geführt, dass man in vielen Fällen diejenigen Patienten gezielt identifizieren kann, die von der jeweiligen Therapie profitieren und den anderen, die keinen Nutzen davon haben, deren Toxizität ersparen kann. Genau dafür steht der Begriff der personalisierten Medizin.
Atemberaubende Entwicklung bei der diagnostischen Methodik
Neben der Therapie entwickelt sich dabei auch die diagnostische Methodik mit atemberaubender Geschwindigkeit weiter: Begonnen haben die Erfolge der tumorgenetischen Forschung und Diagnostik nicht umsonst bei Erkrankungen, von denen man leicht Material gewinnen konnte, weshalb die Hämatologie zu den Vorreitern bei diesen Entwicklungen gehörte. Die Einführung hochauflösender genomweiter Untersuchungsverfahren und deren Anwendbarkeit auf archivierte Gewebeproben hat aber sehr schnell dazu geführt, dass man biologisch und klinisch relevante Veränderungen auch in häufigen soliden Tumoren wie Mamma- oder Lungenkarzinomen oder solchen mit besonders ungünstiger Prognose wie Hirn- oder Pankreastumoren entdeckte.
Auch bei der Entwicklung neuer Arten von Medikamenten, die gezielt auf die zellulären Aberrationen einwirken, waren die Hämatologen die ersten: STI571 oder Imatinib zur Therapie der BCR/ABL-positiven chronisch myeloischen Leukämie war die erste dieser zielgerichteten Therapien, die zugelassen wurde. Doch haben die soliden Tumoren hier längst aufgeholt, wie sich am Beispiel von
EGFR-, HER2-, ALK- und vielen anderen Klassen von spezifischen Inhibitoren zeigen lässt.
Krebserkrankungen sind die häufigsten genetisch bedingten Krankheiten
Wenn Krebserkrankungen nahezu immer durch somatische genetische Aberrationen hervorgerufen werden, muss man konstatieren, dass sie die mit Abstand häufigsten genetisch (mit-)bedingten Krankheitsbilder darstellen.
Sie sind aber auch deutlich komplexer als die herkömmlichen "Erb"-Krankheiten: Während diese häufig durch eine oder wenige Mutationen verursacht werden, trägt jede Tumorzelle in der Regel Hunderte, wenn nicht Tausende von Mutationen, auch wenn nicht alle davon pathogen bzw. klinisch relevant sind. Dennoch erfordert die Komplexität dieser genetischen Veränderungen neue Methoden zu ihrer Analyse und Interpretation, deren Entwicklung nicht zum Wenigsten zu den jüngsten Erfolgen auf dem Gebiet beigetragen hat:
– Wenn nahezu jeder Patient in seinen Krebszellen ein individuelles Muster von genetischen Veränderungen aufweist, das sich durch klonale Evolution auch noch laufend verändert, führt das auch bei häufigen Erkrankungen wie zum Beispiel dem nicht-kleinzelligen Lungenkarzinom zu sehr kleinen molekularen Subgruppen von Patienten, die häufig einer jeweils spezifischen Behandlung bedürfen. Um sie zu identifizieren und adäquat behandeln zu können, ist eine enge Kooperation zwischen klinischen Fächern einerseits und (Molekular-)Pathologen und Humangenetikern andererseits entscheidend.
– Und die technische Entwicklung bleibt nicht stehen: Tumoren sind sehr trickreich darin, die Angriffe durch onkologische Therapien zu unterwandern. Durch klonale Evolution entstehen neue Varianten, die gegen die eingesetzten Therapien resistent werden, und in einer Art gegenseitigem Wettrüsten hat das Pharmakologen und Onkologen dazu getrieben, für viele dieser molekularen Indikationen Zweit- und Drittgenerations-Medikamente zu entwickeln, um solche Resistenzen zu überwinden. Nicht wenige Patienten mit Lungen-, Nieren- oder Mammatumoren erhalten heute vier, fünf, sechs oder noch mehr Therapielinien in Serie. Um solche Folgetherapien rational einsetzen zu können, sollte freilich im Idealfall bei jedem erneuten Rezidiv wieder eine genetische Testung der Erkrankung erfolgen. Dabei ergeben sich zwei Schwierigkeiten: Die eine ist, dass wiederholte Biopsien bei einem Patienten nicht unendlich oft möglich oder tolerierbar sind. Das andere, grundlegendere Problem ist, dass es nicht nur zwischen einzelnen Metastasen Unterschiede in der genetischen Ausstattung gibt, sondern dass sogar eine einzelne Tumorläsion eine erhebliche räumliche Heterogenität in ihrer genetischen Charakteristik aufweisen kann.
Liquid Biopsy: Methode der Zukunft zur weiteren Personalisierung der Therapie
Zu Hilfe kommt dem Molekularpathologen hier eine Tendenz von Tumorzellen, bei ihrem Zerfall genetisches Material in die Zirkulation abzugeben. Die analytischen Methoden sind hier mittlerweile so ausgefeilt, dass man aus zehn Milliliter Blut unter Umständen ein sehr aussagekräftiges genetisches Profil eines Tumors gewinnen kann – zumal man davon ausgehen kann, dass die dort zu findenden Nukleinsäuren ein repräsentatives Bild aller Tumorläsionen im Körper geben.
In einem Fall ist diese "Liquid Biopsy" im klinischen Alltag seit Kurzem bereits abrechenbar: beim Nachweis der T790M-Resistenzmutation des nicht-kleinzelligen Lungenkarzinoms, das unter einer Therapie mit Erstlinien-EGFR-Inhibitoren progredient wird. Das ist aber mit Sicherheit erst der Anfang: Beim ASCO-Kongress ebenso wie beim World Congress on Gastrointestinal Cancer wurde sehr deutlich, dass es beispielsweise auch beim kolorektalen Karzinom nicht mehr lange dauern wird, bis ein solcher Ansatz ebenfalls in der Praxis angewendet wird. Und bei den sich in den letzten Jahren rasant entwickelnden immunonkologischen Therapien steht zu erwarten, dass neben dem Nachweis phänotypischer Marker mithilfe der Immunhistochemie in absehbarer Zeit die gesamte Mutationslast des Tumors zu einem der Parameter wird, die hier die weitere Personalisierung der Behandlung vorantreiben. Auch das ist mittlerweile aus einer Liquid Biopsy zu leisten.