Immuntherapie – ein Meilenstein in der Tumorbehandlung
Nach den vor gut eineinhalb Jahrzehnten eingeführten zielgerichteten Therapien wird seit wenigen Jahren mit der Immuntherapie in der Onkologie ein neuer Hoffnungsträger gefeiert, der nach allem, was wir bisher wissen, erstaunliche therapeutische Erfolge ermöglicht. Dieses Heft von Trillium Krebsmedizin gibt einen Überblick über einige Aspekte dieses Gebiets, das freilich gar nicht so neu ist, wie es derzeit häufig wahrgenommen wird:
Genau genommen gehen die Anfänge der Immuntherapie mehr als hundert Jahre zurück: Der Chirurg William Coley wurde Ende des 19. Jahrhunderts in New York auf Patienten aufmerksam, deren Krebserkrankung sich unter bakteriellen Infektionen gebessert hatte. Durch Injektion eines selbst entwickelten Präparats – „Coley´s Toxin“ – in Tumoren konnte er bereits gewisse Therapierfolge erzielen. Mit dem Aufkommen der Strahlen- und später der Chemotherapie geriet seine Entdeckung jedoch weitgehend in Vergessenheit. In der Behandlung des Blasenkarzinoms mit Bacillus Calmette-Guérin (BCG) lebt die Idee allerdings bis heute in der klinischen Praxis fort.
Eingeführt wurde BCG durch die Arbeitsgruppe von Lloyd J. Old, der Ende der 1950er-Jahre am Memorial Sloan Kettering Cancer Institute in New York damit begann, das Fach der Tumorimmunologie zu entwickeln und im weiteren Verlauf unter anderem den Tumornekrosefaktor entdeckte. Der Weg war lang und steinig: Ältere Leser werden sich noch an die Euphorie erinnern, mit denen in den 1980er-Jahren die gentechnische Herstellung von Interferonen gefeiert wurde – mancher glaubte damit den Krebs besiegt; aber zwei Jahrzehnte klinischer Experimente mit diesen Substanzen (und auch mit Interleukin 2) bei Melanom und Nierenzellkarzinom zeitigten nur sehr bescheidene therapeutische Erfolge.
Erster Meilenstein: monoklonale Antikörper
Um das Gebiet zu dem zu machen, was wir heute als einen immunologischen Angriff auf den Krebs erleben, bedurfte es tieferer Einblicke in die Regulationsmechanismen des Immunsystems, wie sie schließlich mit der Entwicklung der molekularbiologischen Techniken möglich wurden: Ein wichtiger Meilenstein war die Entwicklung der Technologie zur Herstellung monoklonaler Antikörper, mit denen man theoretisch jedes beliebige Antigen auf der Oberfläche von Zellen angreifen kann, um sie anschließend durch Immunzellen zerstören zu lassen. Eine der größeren Schwierigkeiten dabei war, Antigene zu finden, die so tumorspezifisch wie möglich sind. Die ersten wurden in den 1990er-Jahren mit HER2 und CD20 entdeckt und für die Behandlung von Brustkrebs und B-Zell-Lymphomen nutzbar gemacht. Mittlerweile sind zahlreiche Antikörper nicht nur in der Onkologie zugelassen und noch viel mehr in klinischer Entwicklung.
Immuntoxine: zielgerichtete klassische Chemotherapie
Eine Weiterentwicklung sind Antikörper-Wirkstoff-Konjugate, sogenannte Immuntoxine: Man kann sie als eine klassische Chemotherapie ansehen, die aber mithilfe von Antikörpern direkt in die Tumorzellen eingeführt und deshalb in viel höheren Dosen appliziert werden kann, ohne dadurch die Toxizität zu steigern. Auch hier waren technologische Hürden zu überwinden: Die ersten Versuche mit Immuntoxinen begannen bald nach der Verfügbarkeit der monoklonalen Antikörper in den 1980er-Jahren, kamen aber lange nicht über das tierexperimentelle Stadium hinaus, weil die Toxizität zu hoch war. Der kritische Punkt hierbei: Den Linker zwischen Antikörper und Zytostatikum so zu gestalten, dass er sich erst im lysosomalen Kompartiment der Krebszelle löst und so die systemische Verbreitung des Toxins verhindert. Erst nachdem Chemiker dieses Problem gelöst hatten, konnten die ersten Immuntoxine zur Behandlung des refraktären Hodgkin-Lymphoms und des Mammakarzinoms zugelassen werden; zahlreiche weitere befinden sich in der klinischen Entwicklung.
Eine weitere bereits in der Klinik – bei der therapierefraktären akuten lymphatischen Leukämie (ALL) – angekommene Neuerung sind bispezifische Antikörper: Ihre Konstruktionsweise lässt sie an Tumor- und T-Zellen zugleich binden und diese dadurch in engen räumlichen Kontakt bringen – mit tödlichem Ausgang für die Krebszelle.
Manipulation der Regulation von T-Zellen
Am folgenreichsten für den therapeutischen Fortschritt scheint aber im Moment ein tieferes Verständnis der zellulären Immunität, v. a. der Funktion von T-Lymphozyten zu sein, das in den letzten beiden Jahrzehnten gewonnen wurde. Dass maligne Tumoren Immunreaktionen hervorrufen – manche stärker, andere schwächer – war schon länger bekannt. Warum das nicht zu der automatischen Elimination der Tumorzellen führt, begann man erst in der jüngsten Vergangenheit zu verstehen: Um Autoimmunreaktionen zu verhindern, gibt es ein ausgeklügeltes System von Kontrollmechanismen („Immun-Checkpoints“), durch die die zytotoxischen T-Zellen auf verschiedenen Ebenen ihrer Entwicklung gebremst werden. Viele Tumoren haben eine hohe Fertigkeit darin entwickelt, diese Mechanismen zu nutzen, indem sie Liganden für die entsprechenden Checkpoint-Moleküle auf den T-Zellen exprimieren und sich dadurch deren Nachstellungen entziehen. Wiederum sind es monoklonale Antikörper, die diese Mechanismen blockieren und die Aktivität der T-Zellen wiederherstellen können. Das Charmante an diesem Ansatz: Seine Wirksamkeit ist nicht auf eine oder wenige Tumorarten begrenzt, sondern erstreckt sich mehr oder weniger auf beinahe das gesamte onkologische Spektrum – die Entwicklungsprogramme der hier aktiven Firmen illustrieren sehr schön die klinische Breite dieses Ansatzes. In diesem Heft wird der Ansatz am Beispiel des Melanoms illustriert (s. S. 380 ff.).
Entscheidend für die Wirksamkeit der Checkpoint-Inhibitoren scheint vor allem die Mutationslast im Genom der Tumorzellen zu sein: Neue Mutationen führen zur Expression von Tumor-Neoantigenen, an denen die T-Zellen angreifen können. Neben der Mutationslast beeinflusst ein weiterer Parameter die Wirksamkeit der Checkpoint-Inhibitoren: Bei den derzeit zugelassenen Inhibitoren der PD-1-PD-L1-Checkpoint-Achse hängt sie bei vielen, jedoch nicht allen Tumoren partiell von der Expression des PD-1-Liganden PD-L1 auf Tumor-, Immun- und Stromazellen ab. Ist diese sehr niedrig, so ist die Wirkung der Inhibitoren geringer, aber nie ganz aufgehoben. Das erschwert zum einen die Definition eines Schwellenwerts, ab dem die Behandlung indiziert sein sollte. Zum anderen wird gelegentlich diskutiert, ob man die PD-L1-Expression erhöhen oder überhaupt erst auslösen kann (z. B. durch Bestrahlung oder ähnliche Maßnahmen), um dadurch die Wirkung dieser Medikamente zu verstärken. Ob das Erfolg verspricht, muss man abwarten: Wenn der Tumor kein PD-L1 exprimiert und dennoch keine suffiziente Immunreaktion zustande kommt, wird man eher davon ausgehen können, dass er einen oder eventuell auch mehrere der etwa ein Dutzend anderen bisher bekannten Checkpoint-Mechanismen nutzt, um sich dem Zugriff der T-Zellen zu entziehen.
Tumorvakzinen, onkolytische Viren, Zelltherapien
Die rasante Entwicklung unserer Kenntnisse über die Funktionsweise des Immunsystems hat noch zu zahlreichen anderen neuen Ansätzen geführt: Die Entwicklung von Tumorvakzinen (s. S. 389 ff.) und onkolytischen Viren (s. S. 398 ff.) hat ebenfalls bereits zu ersten Zulassungen geführt, und die vielleicht ausgeklügeltste Strategie stellen Zelltherapien dar, bei denen manipulierte körpereigene T-Lymphozyten tumorspezifische Antigene erkennen und zum Beispiel bei „austherapierten“ Patienten mit ALL eine Wirkung erzielen, wie sie bisher unvorstellbar war. Die am weitesten fortgeschrittene Form dieser Zelltherapien, die CAR-T-Zellen (CAR: Chimeric Antigen-Receptor, s. S. 394 ff.) üben eine Wirkung aus, wie sie dem Graft-versus-Leukämie-Effekt bei der allogenen Stammzelltransplantation entspricht, vermeiden aber deren negative Wirkungen wie die Graft-versus-Host-Reaktion. Sie benötigen, weil sie auf köpereigenen T-Zellen basieren, keine Immunsuppression.
PD Dr. Carsten Grüllich
carsten.gruellich[at]med.uni-heidelberg[dot]de